Vom passiven Behandlungskonzept zur aktiven Mitgestaltung – von Anna Brammertz (Öffnet in einem neuen Tab oder Fenster)
Viele Patient:innen wünschen sich zu Beginn vor allem eines: schnelle Schmerzlinderung, idealerweise durch passive Behandlung, ohne großen Eigenaufwand. Doch genau hier beginnt das Dilemma: Diese Erwartung steht im Widerspruch zu einer modernen, evidenzbasierten Physiotherapie und Osteopathie, die auf Aktivierung, Aufklärung und Mitgestaltung setzt.
Trotz Fachwissen und Erfahrung stoßen wir dabei häufig an Grenzen. Denn nachhaltige Veränderung entsteht nicht durch äußere Anwendung, sondern im Inneren der Patient:innen.
Wenn Fachwissen allein nicht reicht
Psyche und Physis lassen sich nicht trennen – und doch passiert genau das im klassischen therapeutischen Setting noch zu oft. Die Zahl psychosomatischer Beschwerden nimmt deutlich zu. Studien zeigen, dass bis zu 40 % der Patient:innen in physiotherapeutischen Praxen unter unspezifischen Schmerzen leiden, die keine rein körperliche Ursache haben.¹
Typische Beispiele aus dem Praxisalltag:
- Rückenschmerzen ohne Befund
- Verdauungsprobleme in Stressphasen
- Beschwerden, die sich je nach sozialem Umfeld verändern
Hinter vielen Symptomen stehen Faktoren wie Stress, emotionale Belastung, Perfektionismus, Beziehungskonflikte oder Existenzängste. Wenn wir nur den Körper behandeln, übersehen wir oft das Wesentliche. Wir lösen Verspannungen – und treffen auf unbewusste Ängste. Wir mobilisieren Gelenke – und rühren an tiefliegende Überzeugungen.
Die Anforderungen an Therapeut:innen verändern sich. Es braucht mehr als gute Hände: Kommunikationsfähigkeit, emotionale Intelligenz und ein systemisches Verständnis sind zentrale Kompetenzen geworden.
„Vergesst die Psyche nicht“ – ein Appell aus der Forschung
Beim Osteopathie-Kongress 2024 in Wien präsentierte Univ.-Prof. Dr. Christoph Pieh aktuelle Studien zur Psychosomatik und zu somatoformen Störungen. Besonders eindrucksvoll war seine Analyse zum Einfluss psychischer Faktoren bei Thoraxschmerzen – einem Symptom, das häufig körperlich abgeklärt, aber emotional bedingt ist.
Mehr als die Hälfte der Patient:innen mit Brustschmerzen erhalten die Diagnose „nicht-kardialer Thoraxschmerz“ (NCCP). Die Daten dazu:
- 40 % dieser Menschen leiden unter Angststörungen
- 18,6 % unter somatoformen Störungen
- in vielen Fällen bleibt die psychische Ursache unerkannt
Der eindringliche Appell von Prof. Pieh:
„Vergesst die Psyche nicht – sie ist längst Teil eures Alltags.“
Ein Satz, der mich tief berührt hat.
In der Pause sprach ich mit Kolleg:innen über die Frage, wie sich solche Erkenntnisse im Alltag umsetzen lassen. Viele waren berührt – und ratlos zugleich.
Ich erinnerte mich daran, wie ich selbst begonnen habe, meine Rolle als Therapeutin neu zu denken. In meiner systemischen Coaching-Ausbildung habe ich gelernt, was es bedeutet, nicht alle Antworten geben zu müssen. Stattdessen gezielt zu fragen, zuzuhören, Muster zu erkennen und Entwicklung zu ermöglichen.
Natürlich arbeiten wir nicht psychotherapeutisch – dafür sind wir nicht ausgebildet. Doch wir dürfen eine achtsame, fragende Haltung einnehmen. Wir dürfen begleiten, statt zu bewerten. Und wir dürfen Patient:innen dabei unterstützen, sich selbst besser zu verstehen.
Ein solcher Haltungswandel wird auch in der Fachliteratur deutlich. Jeremy Lewis, Paul Mintken und Amy McDevitt betonen im Journal of Manual & Manipulative Therapy (2025), dass nur rund 20 % der Therapieeffekte auf körperbezogene Maßnahmen zurückzuführen sind.²
Den weitaus größeren Einfluss haben Lebensstil, Schlaf, Stress, soziale Rahmenbedingungen – und die innere Haltung der Patient:innen.
Die Botschaft der Autor:innen:
„Exercise und Manualtherapie allein reichen nicht – entwickelt euch vom ‚Fixer‘ zum ‚Facilitator‘.“
Empowerment in Therapy – eine Haltung für die Praxis
Aus meinen Erfahrungen ist ein Ansatz entstanden, den ich heute als „Empowerment in Therapy“ (E.I.T.) bezeichne.
E.I.T. ist keine Methode, sondern eine Grundhaltung. Sie verbindet klinisches Wissen mit systemischem Denken und stellt den Menschen in seinem gesamten Lebenskontext in den Mittelpunkt.
Im Kern von Empowerment in Therapy stehen drei Prinzipien:
- Selbstwirksamkeit ermöglichen
Patient:innen aktivieren eigene Ressourcen und gestalten ihre Entwicklung selbst. - Körper und Psyche gemeinsam wahrnehmen
Symptome werden verstehbar, Emotionen dürfen sichtbar werden. - Lösungsorientierung stärken
Der Fokus liegt auf dem Potenzial – nicht auf dem Problem.
Diese Haltung verändert auch die therapeutische Beziehung. Patient:innen bringen eigene Themen ein, übernehmen Verantwortung. Therapeut:innen begleiten diesen Prozess mit Offenheit, Klarheit und Vertrauen.
Ein Beispiel aus der Praxis
Eine Patientin mit chronischen Schulterschmerzen kam nach vielen Behandlungen zu mir. Körperlich war alles abgeklärt, auch osteopathische Maßnahmen brachten nur kurzfristige Besserung.
Im Gespräch richteten wir den Blick neu aus. Ich stellte Fragen wie:
Wann treten die Schmerzen auf? Was passiert zu diesen Zeiten? Was wäre möglich, wenn der Schmerz verschwunden wäre?
Die Schulter wurde zum Symbol für etwas Tieferliegendes. Der Schmerz war nicht mehr nur ein Symptom – er wurde zu einem Signal.
Die Patientin beschrieb ihre Erfahrung später so:
„Durch die Gespräche habe ich das Gefühl, mich besser zu kennen, zu fühlen und klarer zu handeln. Ich spüre, dass mein Körper mehr ist als nur Knochen, Gelenke und Muskeln. Über manche Fragen habe ich noch lange nachgedacht. Ich komme gerne zu den Stunden, weil ich merke, dass es mir nachhaltig besser geht – nicht nur körperlich, sondern auch seelisch.“
Diese Rückmeldung zeigt, was möglich wird, wenn wir Räume für echte Entwicklung öffnen.
Von der Idee zur Anwendung: Erste Tools & Weiterbildung
Du möchtest erste Schritte in Richtung Empowerment in deiner Praxis gehen? Dann hol dir hier mein Arbeitsblatt zur Einführung in E.I.T (Öffnet in einem neuen Tab oder Fenster) – ideal für den Sommer.
Im Frühjahr 2026 startet der neue Lehrgang Empowerment in Therapy (E.I.T.) (Öffnet in einem neuen Tab oder Fenster)– für Therapeut:innen, die ihre Rolle reflektieren und wirksamer begleiten möchten.
Quellen:
- https://www.donau-uni.ac.at/de/universitaet/fakultaeten/gesundheit-medizin/departments/psychosomatische-medizin-psychotherapie/forschung/projekte/einfluss-psychischer-faktoren-auf-die-schmerzgenese-bei-patienten-mit-thoraxschmerz.html
- Lewis, J., Mintken, P., & McDevitt, A. (2025). Journal of Manual & Manipulative Therapy