Chronischen Schmerz verstehen – von Reparatur zu Begleitung

NOI Kursreihe

von Bart van Buchem (Öffnet in einem neuen Tab oder Fenster) und Bernhard Taxer (Öffnet in einem neuen Tab oder Fenster)

Die Achterbahn der Schmerztherapie

Wer lange genug in Medizin, Physiotherapie oder Rehabilitation arbeitet, kennt das Gefühl: Unser Beruf gleicht einer Achterbahn. Immer wieder tauchen Methoden auf, die als Durchbruch gefeiert werden. Mal war es die McKenzie-Methode, dann die Neurodynamik oder die Fixierung auf Core Stability. Die Begeisterung war groß, bis die Ernüchterung folgte, denn Patient:innen mit chronischen Schmerzen profitierten oft nicht so, wie erhofft.

Geblieben ist eine einfache Wahrheit: Keine Technik allein definiert gute Versorgung. Entscheidend sind die Therapeut:innen selbst, ihre Haltung und die Art, wie sie Patient:innen zuhören, erklären, beruhigen und begleiten.

Vom biomedizinischen Modell zum dynamischen System

Über Jahrzehnte galt Schmerz als Signal für Schaden. Ein Bänderiss, ein Bandscheibenvorfall oder ein abgenutztes Gelenk – das waren die klassischen Erklärungen. Bei akuten Verletzungen oder nach Operationen ist dieses Modell hilfreich. Doch wenn Schmerzen bleiben, greift es zu kurz.

Die Forschung zeigt, dass Schmerz unter anderem ein Output des Nervensystems ist. Er entsteht aus dem Zusammenspiel von Körper, Gehirn, Emotionen, Erinnerungen, Stress, Schlaf und Umfeld. Das macht Schmerz nicht weniger real, sondern zeigt, wie komplex er ist. Er ist ein Schutzsystem, das manchmal überempfindlich wird. So wie ein Rauchmelder, lebenswichtig bei echtem Feuer, aber nutzlos, wenn er auch beim Toast machen anspringt.

Aufklärung als Therapie: Warum Wissen heilsam wirkt

Viele Patient:innen tragen Überzeugungen in sich, die die Genesung blockieren: „Schmerz bedeutet immer Schaden“ oder „Mein Rücken ist zerbrechlich.“ Solche Gedanken verstärken Angst, Vermeidung und Katastrophisierung und damit paradoxerweise auch den Schmerz.

Pain Science Education (PSE) setzt hier an. Mit Metaphern und Geschichten lernen Patient:innen, dass Schmerz auch dann real ist, wenn kein Gewebeschaden mehr vorhanden ist. Studien zeigen, dass Aufklärung allein kein Wundermittel ist. Sie ist aber die Grundlage für Vertrauen, Selbstwirksamkeit und die Bereitschaft, wieder aktiv zu werden.

Lernen durch Erfahrung: Bewegung schafft Vertrauen

Wissen verändert erst dann etwas, wenn es erlebt wird. Wer aus Angst jahrelang Bewegung gemieden hat, wird nicht durch Worte überzeugt, sondern durch eigene Erfahrung. Kleine, sichere Bewegungs-Experimente zeigen: Der Körper kann mehr als gedacht. Das Nervensystem lernt neu, nämlich unter anderem, dass Bewegung nicht gefährlich ist.

Programme wie Graded Motor Imagery (GMI) oder RESOLVE setzen genau hier an.

GMI arbeitet schrittweise: Links-rechts-Erkennung, Bewegungsimagination und Spiegeltherapie. Studien belegen die Wirksamkeit bei komplexen Schmerzsyndromen wie CRPS oder Phantomschmerz (Bowering et al., 2013).

Das RESOLVE-Programm geht noch weiter. Es kombiniert Aufklärung mit sensomotorischem Training und gradueller Exposition. In einer großen Studie mit fast 300 Personen mit chronischen Rückenschmerzen zeigte es eine signifikante, wenn auch moderate, Schmerzreduktion im Vergleich zu einer überzeugenden Scheinintervention (Bagg et al., 2022). Bemerkenswert ist vor allem, dass die Teilnehmenden von neuem Vertrauen in Bewegung berichteten. Erst diese Bestätigung durch Erfahrung macht Aufklärung nachhaltig wirksam.

Multidimensionale Ansätze: Körper, Psyche und Umfeld im Blick

Schmerz ist nie nur körperlich. Angst, Stress oder Depression können ihn verstärken. Unterstützung aus dem Umfeld, gute soziale Beziehungen oder ein gesunder Arbeitsplatz wirken dagegen fördernd.

Deshalb braucht es meistens ein interdisziplinäres und multiprofessionelles Vorgehen. Physiotherapeut:innen allein können nicht alles abdecken. Manchmal sind Psycholog:innen, manchmal Arbeitsmediziner:innen die richtigen Partner:innen, um Heilungsprozesse zu unterstützen.

Der Kern guter Schmerztherapie: Haltung statt Technik

Gute Schmerztherapie bedeutet: Schmerz ernst nehmen, Überzeugungen hinterfragen, neue Erfahrungen ermöglichen und Körper, Psyche sowie Umfeld einbeziehen.

Es geht nicht darum, Gewebe zu reparieren. Gute Therapeut:innen begleiten Patient:innen durch einen Prozess des Lernens und der Veränderung.

Professor Lorimer Moseley: Eine prägende Stimme der Schmerzforschung

Eine der einflussreichsten Persönlichkeiten in diesem Feld ist Professor Lorimer Moseley (Öffnet in einem neuen Tab oder Fenster), Professor für Klinische Neurowissenschaften an der University of South Australia. Er hat über 400 wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht und gilt weltweit als führende Stimme zu Schmerz und Neuroplastizität.

In seinen jüngsten Arbeiten betont Moseley, dass klassische Schmerzerklärung oft nicht ausreicht. Wirkliche Veränderung entsteht, wenn Patient:innen aktiv beteiligt sind und wenn Aufklärung mit Storytelling, Bildern oder Co-Design verbunden wird (Moseley et al., 2023; 2025).

Fazit: Schmerz verstehen, Leben zurückgewinnen

Die Geschichte unserer Profession gleicht einer Achterbahn. Geblieben ist die Erkenntnis, dass es nicht die nächste Methode ist, die entscheidend sein wird. Entscheidend ist, wie wir Patient:innen helfen, Schmerz zu verstehen und mit ihm zu leben.

Moderne Schmerzforschung gibt uns dafür die Sprache und die Werkzeuge. Sie zeigt uns, wie wir weg vom Reparaturdenken hin zur Begleitung kommen. So unterstützen wir Menschen dabei, ihr Leben zurückzugewinnen – nicht trotz des Schmerzes, sondern mit einem neuen Verständnis davon.

Nicht verpassen:

Im Juni 2026 wird Lorimer zwei Tage in Wien gastieren, um seine neuesten Erkenntnisse in charismatischer Art und Weise vorzustellen. Verpassen Sie nicht die Gelegenheit, ihn live zu erleben!

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Pain Science in Practice Moseley Vienna

Referenzen

Bagg MK et al. (2022). *Effect of Graded Sensorimotor Retraining on Pain Intensity in Patients With Chronic Low Back Pain.* JAMA.

Bowering KJ et al. (2013). *Graded motor imagery for pathologic pain: a meta-analysis.* Journal of Pain.

Moseley GL et al. (2023). *Teaching patients about pain: the emergence of pain science education, its learning frameworks and delivery strategies.* Journal of Pain.

Moseley GL et al. (2025). *From didactic explanations to co-design, sequential art and embodied learning.* Frontiers in Pain Research.

Butler D. (2016). *The Rollercoaster of Professional Life – still evolving.* NOIjam Blog.